Die Vorstellung von einer Schweiz, in der Frauen und Mädchen ohne Angst und ohne Gewalt leben können, passt durchaus zu einem nationalen Feiertag. Was wir dafür tun können, zeigt die „Istanbul Konvention“, die vor genau 10 Jahren – am 1. August 2014 – in Kraft getreten ist.
Das Thema Gewalt gegen Frauen hat mich bereits als junge Frau beschäftigt. Ich leistete im „Haus für geschlagene Frauen“ in Fribourg Nachtdienst. Dort sah ich, was es bedeutet, wenn Frauen wegen der Gewalt ihres Mannes oder Partners ihr Heim, oft zusammen mit ihren Kindern, fluchtartig verlassen mussten.
Fast dreissig Jahre später, als Bundesrätin, konnte ich ein paar Weichen stellen, um Frauen besser vor Gewalt zu schützen. Unter anderem beantragte ich den Eidgenössischen Räten, einem der wichtigsten internationalen Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt beizutreten. Das Parlament hat diesem Ansinnen zugestimmt.
Die sogenannte „Istanbul Konvention“ ist am 1. August 2014 in Kraft getreten. Sie hat das Ziel, Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu stoppen. Und zwar geht es um alle Formen von Gewalt, von denen ausschliesslich oder in der grossen Mehrheit Frauen betroffen sind.
Dass dieses Datum mit unserem Nationalfeiertag zusammenfällt, ist reiner Zufall. Doch die Vorstellung einer Schweiz, in der Frauen und Mädchen ohne Angst und ohne Gewalt leben können, passt durchaus zu einem nationalen Feiertag. Was wir dafür tun können, zeigt die Istanbul Konvention.
Sie besagt, dass man Gewalt gegen Frauen nur beenden kann, wenn Frauen und Männer rechtlich und tatsächlich gleichgestellt sind. Diese Erkenntnis ist entscheidend: Gewalt gegen Frauen ist die Folge der gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen. Gewalt gegen Frauen ist aber ebenso die Ursache für die Schlechterstellung der Frauen in der Gesellschaft. Das heisst: Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist von der Gleichstellung der Geschlechter nicht zu trennen. Um der Gewalt gegen Frauen ein Ende zu setzen, ist die gesamte Gesellschaft gefordert.
Die „Istanbul Konvention“ wendet sich deshalb auch an Männer und Jungen. Auch wenn die Mehrheit der Männer und Jungen keine Gewalt an Frauen begehen, sind auch sie aufgefordert, einen Beitrag zu leisten. Indem sie Gewalt gegen Frauen öffentlich anprangern, indem sie sich gegen „abwertende Sprüche über Frauen“ wehren und nicht schweigen. Indem sie die historisch gewachsenen ungleichen Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern hinterfragen und dazu beitragen, diese zu überwinden. Die Gewalt gegen Frauen zu beenden, ist eine Aufgabe von Frauen und Männern.
Bisher haben sich 34 Staaten verpflichtet, die Istanbul Konvention umzusetzen. Seit 2018 gehört auch die Schweiz dazu. Unser Land hat zwar die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung verankert, doch in der konkreten Umsetzung gibt es noch einiges zu tun. Gerade die Tatsache, dass in der Schweiz Frauen nach wie vor weniger Lohn bekommen, nur weil sie eine Frau sind, macht deutlich, wie gross der Handlungsbedarf ist.
Als Präsidentin der Stiftung Equal-Salary sehe ich aber auch die positiven Beispiele: Unternehmerinnen und Unternehmer, die ihre Firma freiwillig überprüfen lassen. Sie wollen nicht nur behaupten, sondern auch beweisen, dass bei ihnen die Lohngleichheit eingehalten wird und ihre Mitarbeitenden tatsächlich die gleichen Chancen haben.
Das Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter ist nicht nur ein Beitrag für ein gewaltfreies Leben von Frauen und Mädchen, sondern ein ebenso wichtiger Beitrag wenn es darum geht, Konflikte zu vermeiden oder zu lösen. IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric sagt dazu: „Es ist kein Zufall, dass die Gewalt dort zunimmt, wo Rechte für Frauen und Mädchen abnehmen. Wo Konflikte andauern, wird die Gleichstellung von Frauen und Mädchen untergraben.“
Keine gute Nachricht also, dass die Türkei vor wenigen Jahren entschieden hat, aus der „Istanbul Konvention“ auszutreten. Aber es gibt auch die guten Nachrichten: dass die Schweiz aufgrund der Istanbul Konvention das Sexualstrafrecht angepasst hat und damit die Opfer besser schützt, ist nur eines von vielen Beispielen.